Luigi Jorio, SWI swissinfo.ch
Von den Alpen bis zu den Polarregionen schmelzen die Gletscher weltweit immer schneller. Zwischen 2000 und 2023 haben sie durchschnittlich 273 Milliarden Tonnen Eis pro Jahr verloren, was dem Wasserverbrauch der Menschheit in 30 Jahren entspricht.
Die Eisreserven der Erde schrumpfen aufgrund der Erderwärmung durch Treibhausgasemissionen. Der Temperaturanstieg und die veränderten Niederschlagmuster mit mehr Regen und weniger Schnee beschleunigen das Abschmelzen des Eises.
Die Folgen beschränken sich nicht nur auf Veränderungen der Landschaft und der lokalen Ökosysteme. Der Rückgang der Gletscher trägt zum Anstieg des Meeresspiegels bei und bedroht die Wasserversorgung von Hunderten Millionen Menschen weltweit.
Der World Glacier Monitoring Service (WGMS) sammelt und analysiert Daten zur Massenbilanz, zum Volumen, zur Fläche und zur Länge der weltweiten Gletscher. Er wurde 1986 gegründet und hat seinen Sitz an der Universität Zürich. Der WGMS verfügt über ein Netzwerk von nationalen Korrespondentinnen und Korrespondenten in über 40 Ländern.
Im Internationalen Jahr der Gletschererhaltung haben wir einige von ihnen kontaktiert, um mehr über den Zustand der Gletscher in ihrer Region, die Folgen der Eisschmelze und Anpassungsstrategien zu erfahren.
Der Klimawandel lässt den Schweizer Gletschern keine Verschnaufpause: 2025 ist ihr Volumen um 3% gegenüber dem Vorjahr geschrumpft, so die neuste Bewertung des Schweizer Gletscherbeobachtungsnetzes (GLAMOS) und der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften. Es ist der stärkste Rückgang nach denjenigen in den Jahren 2003, 2022 und 2023.
«Dieses Jahr erwies sich als etwas weniger extrem als wir befürchtet hatten», sagt Matthias Huss, Direktor von GLAMOS. «Was mich jedoch trifft und beunruhigt, ist, dass wir uns an diese sehr negativen Jahre ‚gewöhnen‘. Es ist eine neue Normalität, die es aber nicht geben sollte.»
Die Alpen erwärmen sich schneller als der weltweite Durchschnitt, und die Schweizer Gletscher haben seit 2015 ein Viertel ihres Volumens verloren, betont Glamos. Zwischen 2016 und 2022 sind hundert von insgesamt etwa 1400 Gletschern in der Schweiz vollständig verschwunden.
Entwicklung der Länge des Rhonegletschers in der Schweiz zwischen 2008 und 2025. (Matthias Huss)
Das Schmelzen der Gletscher setzt Bakterien und Viren frei, die grösstenteils unbekannt sind. Ein Forschungsteam untersucht sie erstmals in Schweizer Gletschern, wie dieses Video erklärt:
Die isländischen Gletscher schmelzen so schnell, dass sich künftige Generationen vielleicht irgendwann fragen, wie der nordeuropäische Inselstaat eigentlich zu seinem Namen kam.
Im «Eisland» sind 70 von 400 Gletschern bereits verschwunden. Die Gesamtfläche des isländischen Eises ist in den letzten 25 Jahren um etwa 10% geschrumpft, die Gletscherdicke hat um durchschnittlich einen Meter pro Jahr abgenommen, sagt Hrafnhildur Hannesdóttir vom isländischen Wetterdienst (IMO).
Hannesdóttir ist die isländische Korrespondentin des WGMS. «Die Geschwindigkeit des glazialen Massenverlusts gehört zu den höchsten der Welt», ergänzt sie.
Die grossen isländischen Gletscher wie der Mýrdalsjökull, der Langjökull und der Vatnajökull – volumenmässig die grössten in Europa – ziehen sich jedes Jahr um mehrere hundert Meter zurück. Wenn die Temperaturen weiter steigen, wird Island in 200 Jahren praktisch eisfrei sein.
Entwicklung des Hoffellsjökull-Gletschers in Island von 1989 bis 2020. LMÍ (links), Kieran Baxter / Islenskirjoklar.is (rechts)
Mit 8848 Metern ist der Mount Everest der höchste Berg der Erde. Diese Höhe schützt den Berg jedoch nicht vor den Auswirkungen der globalen Erwärmung. Die Eisdicke des Gletschers am South Col, dem höchsten Gletscher am Everest, ist seit Ende der 1990er-Jahre um mehr als 54 Meter geschrumpft.
«Jüngste Studien zeigen, dass die Gletscher im Himalaya immer schneller schmelzen», sagt Sharad Joshi, Experte für die Kryosphäre am International Centre for Integrated Mountain Development (ICIMOD).
Der Yala-Gletscher im Langtang-Tal gehört zu den am besten beobachteten Gletschern in Nepal. Die Fläche ist zwischen 1974 und 2021 um mehr als ein Drittel geschrumpft, und der Gletscher könnte in den nächsten 20 bis 25 Jahren ganz verschwinden. «Jedes Mal, wenn ich den Gletscher besuche, fühle ich eine tiefe Traurigkeit über diesen massiven Rückgang», sagt Joshi, der nationale Korrespondent in Nepal für den WGMS.
Schwindende Wasserreserven stellen nicht nur eine Gefahr für die Landwirtschaft und die Wasserkraftproduktion dar, sondern verändern auch die lokalen Ökosysteme und gefährden an kalte Umgebungen angepasste Arten.
Sharad Joshi, ICIMOD
Der Rückzug der Gletscher führt zur Bildung von proglazialen Seen. Dabei handelt es sich um Becken, die durch natürliche Dämme aus Eis oder Gesteinsschutt begrenzt sind. Ein Erdrutsch oder ein Erdbeben kann den plötzlichen Bruch dieser Dämme verursachen – mit Überschwemmungen und verheerenden Folgen für Dörfer, Strassen und andere Infrastrukturen.
Afrika ist berühmt für seine Regenwälder, Savannen und Wüsten. Diese Ökosysteme bedecken den grössten Teil des afrikanischen Kontinents. Aber dieser Kontinent beherbergt auch einige Gebiete, die ständig von Eis bedeckt sind.
Die ostafrikanischen Gletscher befinden sich in Äquatornähe auf einer Höhe von über 5000 Metern über Meer. Die grössten befinden sich auf dem Kilimandscharo in Tansania, dem höchsten Berg Afrikas. Weitere Gletscher befinden sich auf dem Mount Kenia und in Uganda im Ruwenzori-Gebirge.
Wie andere Gletscher auf der Welt schmelzen auch die afrikanischen Gletscher in der Folge des Klimawandels. Diese Entwicklung wirkt sich auf die am Fuss der Berge lebenden Menschen und den lokalen Tourismus aus.
«Die afrikanischen Gletscher haben seit dem Jahr 1900 mehr als 90 Prozent ihrer Fläche verloren», sagt Rainer Prinz.
Er ist Glaziologe an der Universität Innsbruck und Länderkorrespondent für Kenia, Uganda und Tansania des WGMS. Er ist zudem Mitautor einer der jüngsten und umfassendsten Studien über afrikanische Gletscher.
In nur etwas mehr als einem Jahrhundert ist die von Gletschern bedeckte Fläche in Afrika von 19,5 auf 1,4 Quadratkilometer geschrumpft, so die Studie. Anschaulich gesagt: Das verbliebene Eis würde nur noch die Hälfte der Fläche des Central Park in New York bedecken.
«Ohne signifikante Änderungen der lokalen klimatischen Bedingungen werden die ostafrikanischen Gletscher voraussichtlich bis Mitte des Jahrhunderts fast vollständig verschwunden sein», prognostiziert Prinz.
Für die Kogi, eine indigene Gemeinschaft im Norden Kolumbiens, ist die Bergkette Sierra Nevada de Santa Maria das Zentrum des Universums. Ihre Flüsse und Wälder sind Teil eines lebendigen Wesens, der Berg ist sein Körper und der Gletscher sein Gehirn.
Das Schmelzen der dortigen Gletscher, so glauben die Kogi, ist ein Zeichen des Ungleichgewichts zwischen Mensch und Natur.
Von den 14 tropischen Gletschern, die es zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Kolumbien gab, sind heute nur noch sechs übrig. Der letzte vollständig geschmolzene Gletscher, der Conejeras-Gletscher, verschwand vor etwas mehr als einem Jahr.
«Wir haben in den letzten zwölf Jahren 30 Prozent der Gletscherfläche verloren», sagt Jorge Luis Ceballos Liévano vom kolumbianischen Nationalen Institut für Hydrologie, Meteorologie und Umweltstudien (IDEAM). Liévano ist der nationale Korrespondent in Kolumbien für den WGMS.
Der Páramo ist ein für Kolumbien und andere lateinamerikanische Länder typisches Ökosystem. Der Páramo speichert das Schmelzwasser der Gletscher und gibt es in den Trockenmonaten wieder ab.
Eine nachhaltige Bewirtschaftung der Wasserressourcen und die Erhaltung von Bergökosystemen wie dem Páramo gehören zu den wichtigsten Strategien, um sich an das Schmelzen der Andengletscher anzupassen.