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Cannabis: Die Renaissance eines "verbotenen" Heilmittels

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Rein und mit Vorsicht verabreicht ist Cannabis "eines der wertvollsten Heilmittel, das wir haben". Der englische Arzt Sir John Russell Reynolds lobte 1890 in einer Schrift die therapeutischen Eigenschaften der ursprünglich aus Indien stammenden Pflanze. So sehr, dass er sie in Form einer natürlichen Tinktur auch seiner berühmtesten Patientin verschrieb, nämlich Königin Viktoria. Mehr als ein Jahrhundert später figuriert Cannabis (oder Marihuana) auf der Liste der verbotenen Substanzen auf Grund ihrer psychotropen Wirkung. Für die einen ist Cannabis eine schädliche und gefährliche Droge, für die anderen ein einzigartiges Medikament, das für die Behandlung von schweren Krankheiten oder bei chronischen Schmerzen eingesetzt wird. Immer mehr Ärzte behandeln in der Schweiz Patienten mit Cannabis-Präparaten und dem psychoaktiven Wirkstoff THC. Die Renaissance ist eng verbunden mit den Lebensläufen von vier Pionieren, deren Geschichten swissinfo.ch erzählt. Die Zeugnisse eines Produzenten, eines Apothekers, eines Arztes und einer Patientin veranschaulichen die Wirkung und die Grenzen der kontroversen Heilpflanze.
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Der Produzent

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"Wir befinden uns in der Ostschweiz, unweit des Bodensees. Das muss genügen…" Markus Lüdi hat nichts zu verstecken und fürchtet sich auch nicht vor der Polizei. Dennoch bevorzugt er die Diskretion. Seine indischen Hanfpflanzen, die bis zu zwei Meter hoch sind, könnten Aufmerksamkeit erregen, und der Chemiker mit seiner Leidenschaft für Botanik möchte Eindringlinge auf Distanz halten.

Wer gerne Joints rauche, könnte auf dumme Gedanken kommen, sagt er. "Hier aber wäre die Enttäuschung gross." Die Pflanzen enthalten zirka 5% THC (Tetrahydrocannabinol, der psychoaktive Wirkstoff von Cannabis), "das ist eine zu geringe Konzentration, um high zu werden", bemerkt Markus Lüdi, der uns auf seiner Plantage im Freien empfängt.
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Wir befinden uns auf einem Forschungsgelände für die Entwicklung pflanzlicher Rohstoffe. Hier, unweit der Hauptstrasse und der Campingplätze zum See hin, hat Markus Lüdi eine Parzelle gemietet, auf der er zwischen Mais- und Kartoffelfeldern den Hanf anpflanzt. Er hatte schon immer den Wunsch, erzählt er, im Freien anzubauen - ohne Pestizide und Düngemittel.

Wir übersteigen einen Drahtzaun. Unter einer Plastikplane befinden sich 200 Cannabispflanzen, die reifen sollen. Markus Lüdi, im weissen Kittel und mit Latex-Handschuhen, ist bereit für die jährliche Ernte. Der Teil der Pflanze, der ihn interessiert, ist der Blütenstand. Hier befinden sich die aktiven Wirkstoffe, erklärt er den drei Angestellten, die ihm helfen. Für sie ist es die erste Erfahrung mit Hanf.
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Die Pflanzen sind das Resultat einer langen Selektion, erklärt Lüdi. Wichtig ist nicht so sehr der Anteil an THC, sondern sein Verhältnis zum anderen aktiven Wirkstoff des Hanfs, dem Cannabidiol (CBD), betont er. "Das THC ist das Molekül, das man in der Medizin verwendet. Es ist jedoch ein Rauschmittel. Ein korrekte Dosierung von CBD verringert die psychotropische Wirkung."

Die Mutterpflanze, aus der alle anderen geklont wurden, wird in einem Schutzraum aufbewahrt. Markus Lüdi begleitet uns zu einem modernen Treibhaus neben der Plantage. Der Zugang ist begrenzt, unser Eintritt wird registriert. Der Raum, der die Pflänzchen beherbergt, ist sofort zu erkennen: es ist der einzige, dessen Glaswände mit Papier bedeckt sind. Im Innern, wo Temperatur und Feuchtigkeit von einem Computer kontrolliert werden, spriesst die neue Generation Pflanzen heran.

"Alle sagten mir, das funktioniere nie", sagt Markus Lüdi und erinnert sich an die Reaktionen, als er beschlossen hatte, auf die verbotene Pflanze zu setzen. Das war Ende der 1990er-Jahre. Doch der Berner Chemiker, angestellt in einer Firma, die Pflanzenessenzen produzierte, war vom therapeutischen und ökonomischen Potenzial von Cannabis überzeugt.

Es gab einen kleinen "Hanf-Boom" mit neuen Nutzungsmöglichkeiten im medizinischen Umfeld, erzählt er. "Ich glaubte, das Gesetz würde in Kürze geändert. Stattdessen habe ich über zehn Jahre darauf gewartet." Die Wende kam 2008, als das Schweizer Volk dem medizinischen Gebrauch von Cannabis zustimmte. Erst 2011, als das neue Gesetz in Kraft trat, erhielt Markus Lüdi als einziger in der Schweiz die Bewilligung, Hanf anzubauen und eine Hanftinktur zu verkaufen.
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Die schweizerische Gesetzgebung verbietet den Anbau, den Konsum und den Handel von Cannabis mit einem THC-Gehalt von über 1%. Über diesem Prozentsatz gilt Cannabis als Betäubungsmittel, und eine allfällige Verwendung unterliegt einer speziellen Bewilligungspflicht.

Das Schweizer Stimmvolk hat 2008 eine Initiative zur Entkriminalisierung von Cannabis mit 63% abgelehnt. In der gleichen Abstimmung wurde jedoch das neue Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe angenommen, das eine kontrollierte und begrenzte Anwendung von Cannabis zu medizinischen Zwecken erlaubt (vorher galt dies nur für Forschungszwecke).

Die Schweizer Regierung und eine Mehrheit des Nationalrats sind der Meinung, dass man im Rahmen eines Pilotprojekts die Durchführbarkeit einer Zulassung von Medikamenten auf der Basis von Cannabis prüfen solle.

Der Gebrauch von Cannabis zu medizinischen Zwecken ist in verschiedenen europäischen Ländern (Deutschland, Italien, Spanien, Portugal und Grossbritannien), in Lateinamerika und in 23 US-Bundesstaaten legal oder toleriert. In den meisten asiatischen und afrikanischen Staaten hingegen ist dies illegal
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Im Laufe des Nachmittags ist die Ernte eingebracht, Markus Lüdi ist zufrieden: im Lager sind eineinhalb Zentner Marihuana. Der beissende Geruch von Harz füllt die Luft und durchdringt die Kleider. Einmal getrocknet, wird der Hanf in ein Labor nach Burgdorf bei Bern gebracht, wo die Wirkstoffe extrahiert werden. "Ein insgesamt einfaches Verfahren", meint der Chemiker. "Das könnte man auch zu Hause machen."
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Markus Lüdi verfügt über eine Ausnahmebewilligung des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Alle Installationen, die der Hanfgewinnung dienen, müssen Sicherheitskriterien erfüllen, und die gesamte Produktion wird strengstens kontrolliert. Es ist richtig, dass das so ist, beteuert der Chemiker. Er schüttelt jedoch den Kopf, wenn er an die Bürokratie denkt. Die Mutterpflanze heranzuziehen, eine neue Plantage errichten, die Pflanzenreste nach der Ernte entsorgen: für jede einzelne Phase der Produktion müsse er einen Antrag stellen, kritisiert er.

Die Bewilligungspflicht findet er richtig, sie schützt ihn auch vor jenen, die das Gleiche machen möchten. Er hat "aus Idealismus" mit Cannabis angefangen zu arbeiten, wie er sagt. "Es ist eine Pflanze, die vielen Schwerkranken Linderung verschaffen kann." Der 60-Jährige hofft, dass sich seine Investitionen auszahlen werden. 2015 könnte er erstmals allein vom Hanf leben. Von welchen Beträgen sprechen wir? "Von einigen hunderttausend Franken im Jahr", sagt er etwas widerwillig“, fügt aber sofort an, dass man "mit Gras nicht reich wird".
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Der Apotheker

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Im ehemaligen Fahrradschuppen wird es lebhaft. Wie jeden Nachmittag stellen Manfred Fankhauser und seine Assistenten die Pakete für den Versand bereit. Der Postschalter schliesst in wenigen Stunden, es gilt keine Zeit zu verlieren.

Auf einem Regal reiht sich Schachtel an Schachtel, gefüllt mit Cannabismedikamenten. 24 sind es, für ebenso viele Patienten in der ganzen Schweiz.
Die meisten enthalten eine Lösung auf der Basis von THC, dem Dronabinol, ein Medikament, das Manfred Fankhauser direkt in der Apotheke in Langnau im Emmental (Kanton Bern) herstellt. Zudem gibt es natürliche Tinkturen, jene von Markus Lüdi, seinem Geschäftspartner.

Das Telefon klingelt ununterbrochen. "Es sind Leute, die Fragen zu Cannabis haben", erklärt der Apotheker. Cannabis hilft Patienten während einer Chemotherapie gegen Schwindel und Übelkeit. Bei Aidskranken regt es den Appetit an, und bei multiple Sklerose-Patienten lindert es die Krämpfe, erklärt er. "Die Patienten wenden sich an mich, wenn mit den andern Medikamenten keine Resultate erzielt wurden."

"Als ich 2007 mit Cannabis angefangen habe, zählte ich gerade einmal fünf Patienten. Heute sind es rund 600." Wegen der grossen Nachfrage hat Manfred Fankhauser eine junge Frau angestellt, welche die Anrufe entgegennimmt. Das Untergeschoss des Hauses der Familie, in dem früher die Fahrräder standen, wurde in ein "Cannabis-Büro" umfunktioniert. Es wird von einer Alarmanlage überwacht. Das Rohmaterial, reines THC in einer Ampulle, wird in einem Tresor aufbewahrt.
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Die Affiche von "Devil's Harvest", einem Film aus dem Jahr 1942, der den Cannabis-Konsum verteufelt.
Die Affiche von "Devil's Harvest", einem Film aus dem Jahr 1942, der den Cannabis-Konsum verteufelt.
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Manfred Fankhauser, 52 Jahre alt, war der erste Apotheker in der Schweiz, der Cannabis wieder auf den Ladentisch brachte. "Die heilenden Wirkstoffe von Cannabis Sativa sind seit Jahrtausenden bekannt", erklärt Fankhauser, der auch an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich Pharmaziegeschichte unterrichtet.

Die Schwierigkeiten mit der Beschaffung nach dem Zweiten Weltkrieg (die Pflanze wurde in Indien angebaut), die chemischen, beständigeren und wirkungsvolleren Medikamente, die auf den Markt kamen und die wachsende Verteufelung von Marihuana, die in den 1960er Jahren in einem internationalen Verbot gipfelte, setzte der Nutzung ein Ende. Manfred Fankhauser erinnert dran, dass "das schweizerische Gesetz zu medizinischen Zwecken alles, was von der Pflanze stammt, verbot"."Es gab jedoch kein Verbot für Cannabinoide synthetischer Herkunft", präzisiert er.

Dank diesem Umstand erhielt er 2007 die Erlaubnis, aus Deutschland THC zu importieren, das aus der Zitronenschale gewonnen wurde. Manfred Fankhauser, ein Bauernsohn, möchte jedoch das ganze Potenzial dieser im Pflanzenreich einmaligen Pflanze ausschöpfen können. Er träumt von einem natürlichen Extrakt, vollumfänglich in der Schweiz produziert - einer Cannabis-Tinktur wie zu Zeiten von Königin Viktoria. "Im Unterschied zu Dronabinol enthält die Tinktur nicht nur THC, sondern alle Wirkstoffe von Cannabis", unterstreicht er.

Die Begegnung mit Markus Lüdi und das Inkrafttreten des neuen Betäubungsmittelgesetzes im Juli 2011 markierten den Anfang eines ungeahnten Erfolgs.
Die Affiche von "Devil's Harvest", einem Film aus dem Jahr 1942, der den Cannabis-Konsum verteufelt.
Die Affiche von "Devil's Harvest", einem Film aus dem Jahr 1942, der den Cannabis-Konsum verteufelt.
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Seither wird er im Land "Hanf-Apotheker" genannt, meint er schmunzelnd. In seiner Apotheke in Langnau – einer ganz normalen Dorfapotheke – wird der grösste Teil der Cannabis-Medikamente eingepackt und in die ganze Schweiz versendet. Seine Motivation seien die Patienten, betont er. "Wenn man den Kranken zuhört, wird man sich über deren Leiden bewusst."
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Manfred Fankhauser widerspricht nicht. Cannabis ist eine wichtige Einnahmequelle und macht 20% seines Umsatzes aus. Wenn man die Preise der Medikamente anschaut, weiss man auch warum: Ein Fläschchen Dronabinol, das kleinste wohlgemerkt, kostet 220 Franken. Mehr als ein Franken pro Tropfen.

Dass der Preis hoch ist, gibt auch der Apotheker zu. "Es ist vor allem eine Frage von Angebot und Nachfrage: Cannabis bleibt ein Nischenprodukt." Ein Nischenprodukt, das jedoch immer begehrter wird: die Konkurrenz aus der Schweiz und dem Ausland wächst, und auf dem Markt tauchen neue Präparate auf, vom Mundspray bis zum Hanföl.

Ein Medikament mit Cannabis herzustellen, sei nicht so einfach, sagt der Apotheker. Die Kosten für Laboranalysen und die Qualitäts- und Stabilitätskontrollen des Produkts sind hoch, ebenso der Preis für das THC, das für die Herstellung von Dronabinol nötig ist: 1700 Franken pro Gramm ist ein exorbitanter Betrag. Die administrativen Kosten für die vierteljährliche Erneuerung der Bewilligung sind ebenfalls beträchtlich, und trotz der Entkrampfung im Umgang mit Cannabis "ist dessen Stigmatisierung immer noch ein Hindernis", fügt er bei.

Manfred Fankhauser muss aufmerksam sein, er darf sich keine Fehler leisten, weder bei der Dosierung noch beim Versand der Medikamente. Hinter sich spürt er schon den Atem des Kantonsapothekers, der regelmässig den Gebrauch von Cannabis vor den Lokalpolitikern und den Gesundheitsbehörden rechtfertigen muss. Eine grosse Schwierigkeit werde bleiben, fügt Fankhauser bedauernd bei: "Man darf das Tabu des Drogenmissbrauchs nicht brechen, man muss klar eine Grenze ziehen zwischen Freizeitverhalten und medizinischer Anwendung."
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Der Arzt

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Als er jung war, probierte er Hanfkekse und untersuchte die Wirkung des Kräutertees am eigenen Leib. "Eine lustige Erfahrung", erinnert sich der Arzt Claude Vaney, der sofort wieder ernst wird: "Der Marihuana-Rausch ist nichts für mich. Im Gegenteil, ich verurteile den Freizeitkonsum." Der Chefarzt Neurologie der Berner Klinik in Crans-Montana, im Kanton Wallis, hat keine Zweifel: "Cannabis ist ein Medikament. Im Unterschied zu Morphium führt Hanf nicht zu Abhängigkeit, und es ist nicht tödlich", stellt er fest. Mit einer Überdosis Schlafmittel könne man sich das Leben nehmen, mit zu viel Cannabis nicht.

Es war ein Patient, der ihn vor über zwanzig Jahren mit Cannabis konfrontierte. "Er sagte mir, dass er zur Schmerzlinderung Joints rauchte", erinnert sich Vaney. Seine Neugier war geweckt, und der Arzt erhielt Bundesgelder, um die Wirkung von Cannabis (Verabreichung in Form von Kapseln) bei multiple Sklerose-Patienten zu erforschen. Die Resultate der Studie, die erste in der Schweiz und eine der wenigen weltweit, bestätigten seine Hypothese. "Die objektive, gemessene Spastizität veränderte sich nicht, die subjektive jedoch schon: die Patienten fühlten sich besser und konnten nachts besser schlafen", erklärt Claude Vaney.
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Es sind nicht nur multiple Sklerose-Patienten, die sich an den 63jährigen Neurologen wenden. Von diesem unheilbaren Leiden sind in der Schweiz rund 8000 Personen betroffen. Es gibt auch Personen, die unter Rückenmarkverletzungen (nach einem Verkehrsfall oder einem Sturz), an Fibromyalgie oder starker Migräne leiden. "Ich empfehle ihnen, mit kleinen Dosen zu beginnen, etwa in Anwesenheit anderer Personen, und zu beobachten, wie es wirkt. Auf einer Sache beharre ich jedoch: "Cannabis lindert die Schmerzen, die Krankheit heilt es nicht."

Mit einer therapeutischen Dosierung ist das Risiko einer psychotropen Wirkung extrem gering, und die Nebenwirkungen sind in der Regel schwach. Es kann höchstens zu einem Schwindelgefühl oder Herzrasen kommen. Eine längere Einnahme von THC in starker Dosierung kann jedoch die kognitiven und psychomotorischen Funktionen beeinträchtigen.

Der Arzt, geboren in Lausanne, macht sich keine Illusionen. Cannabis ist kein Allheilmittel. Seiner Erfahrung nach hat es bei 30-40% der Fälle einen positiven Effekt. "Sein Potenzial ist jedoch noch lange nicht ausgeschöpft", meint er. "Das wachsende Wissen über die THC-Rezeptoren anderer Cannabinoiden im menschlichen Körper führen vielleicht zur Entdeckung von ungeahntem therapeutischen Potenzial", glaubt Vaney.




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Gleich wie der Produzent und der Apotheker muss auch der Arzt Claude Vaney eine spezielle Bewilligung beim BAG beantragen. Im Auge des Gesetzes obliegt ihm die ganze Verantwortung für die Verschreibung von Cannabis. Für Vaney, der Hunderte von Patienten betreut hat, handelt es sich dabei um eine "Formalität", und keiner seiner Anträge wurde je zurückgewiesen. "Alle Ärzte könnten dies tun", sagt er.

Die Ärzte, die Cannabis verschreiben, werden zahlreicher (350 in den ersten fünf Monaten von 2015 gegenüber 250 im gleichen Zeitraum 2014), doch seien sie immer noch eine Minderheit, stellt Gert Printzen, Mitglied des Zentralvorstands der FMH, fest. "Der Gebrauch von Cannabis für bestimmte Indikationen steht nicht zur Diskussion, und wir verfügen über ausgezeichnete wissenschaftliche Publikationen zum Thema", schreibt er in seiner Antwort an swissinfo.ch.

Die Zurückhaltung sei jedoch in der öffentlichen Meinung und in der Politik spürbar, beobachtet Claude Vaney. "Spricht man von Cannabis zu therapeutischen Zwecken, dann kommt immer die politische Komponente ins Spiel. Droge und Medikament müssen klar getrennt werden", wünscht sich Vaney.
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Diese Trennung ist jedoch für Andrea Geissbühler, Polizistin und Nationalrätin der Schweizerischen Volkspartei (rechtskonservativ), nicht so klar. "Cannabis bleibt eine Droge, und das Missbrauchsrisiko ist hoch. Die allgemeine Abgabe von Medikamenten ist ein Schritt zur Legalisierung", ist die Politikerin überzeugt. "Ferner ist die Reaktion der Patienten auf THC nicht vorhersehbar.
Es gibt nicht genügend Studien, es fehlt die Gewissheit." Und gerade deswegen figuriere Cannabis nicht auf der Spezialitätenliste der Medikamente, die von der Grundversicherung übernommen würden.

Es sei eine Substanz mit therapeutischem Vorzügen und es lohne sich, weiter zu forschen, insistiert hingegen der Arzt Claude Vaney. Die Patienten suchten nicht die psychotrope Wirkung, sondern einfach Linderung und ein Gefühl des Wohlbefindens. "Wer den Rausch sucht, für den ist es wohl einfacher, sich das Gras auf der Strasse zu beschaffen als Tropfen zu schlucken", sagt er.
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Die Patientin

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Monika Koella hat überall Schmerzen, am Rücken, am Nacken, in den Gelenken und im Unterleib. Es fehlt ihr ein Teil des Darms, und ein Neurostimulator, der ihr unter die Haut eingepflanzt wurde, sendet ständig elektrische Impulse ans Hirn. Trotz rund vierzig chirurgischen Eingriffen und unzähligen Analysen kann die 58-Jährige ihre Krankheit nicht benennen.

"Die Ärzte sind nicht in der Lage, eine Diagnose zu stellen", sagt sie in ihrer Wohnung in Bern. Die einzige Gewissheit ist, dass die chronischen Schmerzen seit mehr als dreissig Jahren ihr ständiger Begleiter sind.
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Um ihre Schmerzen in den Griff zu bekommen, hat sie alles probiert. Mit Schmerzmitteln in immer höheren Dosen, mit Opiaten bis hin zu experimentellen Therapien. Vergeblich. Regelmässig nahm die anfängliche Linderung ab, und die Nebenwirkungen wurden immer unerträglicher.

"Dann, eines Tages, zeigte mir eine Freundin eine Broschüre. Darin wurde von einem Medikament aus Hanf gesprochen, dem Dronabinol. Ich fand das interessant und wollte es ausprobieren." Nach drei Jahren sei Cannabis ihr "Rettungsanker", sagt sie. Sie nimmt weiterhin ihren täglichen Cocktail aus sieben Medikamenten. Mit weniger geht es nicht. Doch seit sie die Tropfen von Manfred Fankhauser, dem Apotheker aus Langnau, entdeckt hat, kann sie den Konsum von Opiaten und Schlafmitteln reduzieren.
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Zwölf Tropfen am Tag, gewöhnlich am Abend, sind nicht genug. Monika Koella möchte die Dosis erhöhen. Nicht um die Wirkung zu steigern, sondern um die Tropfen über den Tag besser zu verteilen und so immer eine gewisse Menge THC im Blut zu haben.

Doch jeder Tropfen ist kostbar. Das Fläschchen, das für weniger als zwei Monate reicht, kostet 900 Franken. Kosten, die vorläufig von der Krankenkasse übernommen werden. Monika Koella befürchtet jedoch, dass die Versicherung die Rückerstattung aussetzt. Sie hätte übrigens das Recht dazu.

Rund die Hälfte der Gesuche an die Krankenkassen wird laut dem BAG positiv entschieden. Für Margrit Kessler, Nationalrätin der Grünliberalen Partei, ist das ungenügend. Die Präsidentin der Schweizerischen Stiftung SPO Patientenschutz möchte eine automatische und erleichterte Zulassung von natürlichen Cannabis-Medikamenten. "Das Bewilligungsverfahren ist kompliziert, und die Preise von Medikamenten auf Cannabisbasis sind sehr hoch", schreibt sie in einer Motion. "Im heutigen System lindern viele Schmerzpatienten illegal ihre Schmerzen mit Cannabis." Anfang Juni hat eine grosse Mehrheit der Grossen Parlamentskammer ihre Motion angenommen, und auch die Regierung steht einer Studie positiv gegenüber, welche "die wissenschaftlichen, methodologischen und rechtlichen Fragestellungen im Rahmen der Anwendung von Cannabisblüten klären soll".

A inizio giugno, un’ampia maggioranza della camera bassa del parlamento ha accettato la sua mozione e anche il governo si dice favorevole a uno studio «per chiarire le questioni scientifiche, metodologiche e legali dell’impiego dei fiori di canapa».

In der Zwischenzeit dosiert Monika Koella sorgfältig ihre Tropfen. Manchmal hat nicht einmal Dronabinol eine Wirkung. Doch ohne ihr "Wunderfläschchen" zu leben, wäre für sie unvorstellbar. "Es hat mir einen Teil meines Lebens wieder zurückgegeben", betont sie.Cannabis als das "Aspirin der 21. Jahrhunderts" zu bezeichnen, wie das einige tun, sei übertrieben, meint Manfred Fankhauser. "Für alle Indikationen, für die man es verwenden kann, gibt es auch andere, wirksame Mittel." Der Apotheker wünscht sich jedoch, dass die Patienten rechtzeitig Zugang zu Cannabis erhalten und nicht nur als Ultima Ratio. "Erachtet ein Arzt das Medikament als zweckmässig, sollte ein übliches Rezept genügen.

"Es sei nur eine Frage der Zeit, bis Cannabis endgültig wieder in die Apotheke zurückkehre, ist Professor Rudolf Brenneisen überzeugt. "Man muss nur schauen, was in diversen amerikanischen Bundesstaaten oder in Uruguay passiert." Auch Doktor Claude Vaney ist optimistisch und glaubt, dass in 5 bis10 Jahren der Gebrauch von Cannabis in der Schweiz verbreitet sein wird. Man müsse aber nicht damit rechnen, dass multiple Sklerose-Patienten nach Einnahme von THC lachten und tanzten. "Doch die Liberalisierung von Cannabis zu therapeutischen Zwecken könnte ihnen zu einem besseren Leben verhelfen."


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Impressum

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Autor: Luigi Jorio

Übertragung aus dem Italienischen: Christine Fuhrer

Bilder: Thomas Kern

Video: Carlo Pisani

Produktion: Giuseppe Ciliberto

@SWI swissinfo.ch

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Ein mühsamer Tag

Ein kurzer Spaziergang mit dem Hund. Für Monika Koella ist es der einzige Zeitvertreib ausser Haus.

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Monika Koella begann 2012, Dronabinol einzunehmen, ein Arzneimittel auf Cannabis-Basis. Trotzdem ist sie auf ihren täglichen Medikamenten-Cocktail angewiesen.

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Angefangen hat alles mit einem Rückenleiden und Gelenkschmerzen, erinnert sich Monika Koella.

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Monika Koella: "Als ich noch arbeitete, kam ich häufiger per Ambulanz als mit dem Bus nach Hause."

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Ein Grossteil der Arbeiten im Haushalt lastet auf den Schultern von Ehemann Roland.

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Kochen ist für Monika Koella häufig zu anstrengend.

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Monika Koella verbringt viele Stunden am Tag zusammen mit ihrem Hund auf dem Bett liegend.

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Vor ihrer Invalidität arbeitete Monika Koella als Bankangestellte.

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Monika Koella:
"Die Magenprobleme könnten
von all den Medikamenten stammen,
die ich nehmen muss."

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Monika Koella: "Mein Arzt sagte mir, ich hätte an den Halswirbeln eine Arthrose wie eine 80-jährige Frau. Dabei war ich erst 40."

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Erinnerungen an vergangene Zeiten.

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Monika Koella: "Mein Tag ist ziemlich mühsam."

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Erntezeit

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Cannabis Tropfen

Das Cannabis enthält rund 5% THC (Tetrahydrocannabinol), die psychotrope Substanz der Pflanze mit therapeutischer Wirkung.

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Die Blütenstände werden von Blättern und Zweigen gesäubert, eine langwierige und minutiöse Arbeit, die von Hand erledigt wird.

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Nach getaner Arbeit bleibt von der ursprünglichen unverarbeiteten Cannabis-Ernte von 150 kg nur gut ein Viertel übrig.

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Die rund 40 kg zerkleinerten Cannabis-Blüten werden in einem Kühlraum aufbewahrt.

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Die Cannabis-Blüten werden in eine 70%-ige Alkohollösung gegossen.

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Zur Entnahme des THC und anderer Cannabinoide wird die Lösung für mindestens eine halbe Stunde bei Zimmertemperatur aufbewahrt und dann gefiltert.

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Dieses Vorgehen wird zwei bis drei Mal wiederholt.

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Der Zweck davon ist, eine Lösung zu erhalten, die 10 mg THC pro Milliliter enthält.

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Aus 40 kg Cannabis-Blüten kann der Chemiker rund 120 Liter Tinktur gewinnen.

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Jeder Herstellungsschritt ist standardisiert und alle Daten werden notiert.

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Die Cannabis-Tinktur wird dann in der Apotheke verkauft.


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