500 Jahre Reformation
500 Jahre ReformationDie Schweiz, die andere Wiege des Protestantismus
Geschichte
Geschichte der Reformation und des Protestantismus in der Schweiz
Die Schweiz im Zentrum der Reformation
Die Schweiz im Zentrum der Reformation
Als der Augustinermönch Martin Luther seine Thesen gegen den Ablass veröffentlichte, war Europa bereits von Erneuerungs- und Reformationskräften gezeichnet. Es gab viele Stimmen, die eine Erneuerung der katholischen Kirche forderten. Die Renaissance und die Erfindung von beweglichen Lettern für den Buchdruck hatten wesentlichen Anteil an der Ausbreitung neuer Ideen. Die Entdeckung neuer Erdteile veränderte die Wahrnehmung der Erde.
Fruchtbarer Boden
Fruchtbarer Boden
Zürich und Genf werden zu den beiden Zentren der Schweizer Reformation. In diesen Städten hilft der Reformationsgedanke den weltlichen Amtsträgern, sich gegenüber den jeweiligen Bischöfen zu emanzipieren.
Die zentrale Figur der Zürcher Reformation ist der St. Galler Pfarrer Huldrych Zwingli. Er lässt sich 1519 in der Limmatstadt nieder. Innerhalb von wenigen Jahren erneuert er die Kirche von Grund auf. Die katholische Messe wird 1525 in Zürich abgeschafft. Zwingli übersetzt noch vor Luther die Bibel ins Deutsche.
Bruch mit Luther
Bruch mit Luther
Der Bruch mit Luther hat schwerwiegende Folgen für die Reformation in der Schweiz. Der Bezug zu Deutschland geht verloren. Die von Zwingli gegründete reformierte Kirche intensiviert ihre Kontakte zu Genf. Dort ist die Reformation durch Johannes Calvin geprägt.
Die beiden Kirchen einigen sich auf ein Bekenntnis, das 1566 als Confessio helvetica posterior in die Geschichte eingeht. Mit dieser reformierten Bekenntnisschrift wird die Schweiz zum zweiten grossen Zentrum der Reformation, alternativ zur lutherischen Reformation.
"Protestantisches Rom"
"Protestantisches Rom"
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts finden viele religiöse Flüchtlinge, Anhänger des reformierten Glaubens aus Frankreich, Italien und anderen Ländern in Genf Unterschlupf. Und der Calvinismus breitet sich schnell über die Grenzen der Stadt hinaus aus. Der von Calvin inspirierte Protestantismus wird in den Niederlanden und in Schottland übernommen; in der deutschen Pfalz wird er sogar zur Staatsreligion.
In Italien schliessen sich die Waldenser, die aus einer häretischen Bewegung im Mittelalter hervorgegangen waren, 1536 dem Protestantismus calvinistischer Prägung an. Auch die französischen Hugenotten folgen der Lehre Calvins. Ende des 17. Jahrhunderts werden sie verfolgt und fliehen aus Frankreich. Sie finden in der Schweiz, in England und in Preussen eine neue Heimat für ihr ihre kommerziellen und unternehmerischen Aktivitäten.
Der Calvinismus spielt auch in der Englischen Revolution des 17. Jahrhunderts eine zentrale Rolle: Auf den englischen Kolonialschiffen werden die in Genf entwickelten religiösen Ideen der calvinistischen Reformation in die Neue Welt gebracht. Auch für die Identitätsstiftung der Vereinigten Staaten von Amerika sind sie von grosser Bedeutung.
Konflikte und Mediationen
Konflikte und Mediationen
Die so genannten Kappelerkriege zwischen reformierten Orten unter Führung Zürichs und den katholischen Orten der Zentralschweiz sind die ersten Religionskriege in Europa. Während des zweiten Kappelerkriegs stirbt Zwingli im Jahr 1531.
Streit und Unverständnis zwischen den Kontrahenten bleiben über Jahrhunderte bestehen. Doch es gibt auch Beispiele von Konflikten, die auf relativ friedliche Weise beigelegt werden. So trennen sich das katholische Appenzell-Innerrhoden und das reformierte Appenzell-Ausserrhoden im Jahr 1597, ohne dass es zu Blutvergiessen kommt.
Reformation und Schweizer Identität
Reformation und Schweizer Identität
Die starken Beziehungen zwischen der reformierten Kirche in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz helfen später bei der Integration der Westschweizer Kantone in die Eidgenossenschaft.
Im Übrigen überlagern die gemeinsamen und übergeordneten Interessen der Eidgenossen häufig die religiös-konfessionellen Konflikte, zumal die Konfessionsgrenzen nicht genau mit den sprachlich-politischen Grenzen übereinstimmen. Im Sonderbundskrieg von 1847 verläuft die Front zwischen Liberalen und Konservativen nur teilweise entlang der Konfessionsgrenzen.
Zweifellos hat die protestantische Ethik die Schweizer Identität in entscheidender Weise geprägt. Doch als Folge der Säkularisierung und Immigration aus Südeuropa im 20. Jahrhundert hat der Protestantismus in der Schweiz selbst in vielen traditionell reformierten Gegenden an Stellenwert eingebüsst. Einzig im Kanton Bern stellen die Reformierten noch die absolute Mehrheit, in den Kantonen Appenzell-Ausserrhoden und Thurgau bleiben sie die grössten religiösen Gemeinschaften.
VideoEin Denkmal in Genf im Mittelpunkt der Feierlichkeiten zur Reformation
Der Grundstein zum Bau des internationalen Reformationsdenkmals – auch Mauer der Reformatoren genannt – wurde 1908 gelegt. Wegen Schwierigkeiten während des Ersten Weltkriegs erfolgte die Fertigstellung erst 1917. Finanziert wurde der Bau durch private und öffentliche Gelder, die in der Schweiz und in den grossen protestantischen Ländern gesammelt wurden. Das Denkmal zelebriert die grossen Momente der Reformationsgeschichte.
Bis heute ist das Denkmal – zusammen mit dem berühmten Springbrunnen – das bekannteste Wahrzeichen von Genf.
VideoInternationales Museum der Reformation
Das Museum erhielt 2007 vom Europarat den Museumspreis. Seit 1977 wird diese Auszeichnung jedes Jahr an Institutionen vergeben, die einen wichtigen Beitrag leisten, das kulturelle Erbe Europas bekannt zu machen.
Religiöse Landschaft
Vielfältige religiöse Landschaft der Schweiz
"Der Glaube ist eine Sichtweise der Dinge, die nicht sichtbar sind."Jean Calvin, protestantischer Theologe
Während Jahrhunderten bleibt die Situation gleich. Auf Grund des Prinzips "cujus regio, ejus religio" (wessen Gebiet, dessen Religion) ist ein Wechsel der Religionszugehörigkeit in den Kantonen nicht möglich. Zudem sind Bevölkerungsbewegungen in einer noch stark ländlich geprägten Gesellschaft selten.
Doch Mitte des 19. Jahrhunderts setzt eine neue Entwicklung ein. Die Gründung des schweizerischen Bundesstaats (1848) erlaubt nun den Bürgern, sich überall im Land frei niederzulassen. Der industrielle Aufschwung lockt Arbeitskräfte aus den ländlichen, oft katholischen Kantonen in die städtischen, eher industrialisierten und vorwiegend protestantischen Kantone.
Doch erst während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschleunigt sich die Veränderung. Die Säkularisierungsbewegung in der Gesellschaft, wahrnehmbar vor allem im Westen, wie auch die massive Einwanderung vor allem aus Südeuropa verändern die religiöse Landschaft.
Heute ist die Schweiz kein überwiegend protestantisches Land mehr. Die Katholiken sind in der Mehrheit, die nicht-europäischen Religionen werden immer sichtbarer, und der Anteil an Personen, die sich zu keiner Religion bekennen – ein früher undenkbares Phänomen – war noch nie so hoch. Kurz, in Sachen Religion ist unsere Epoche vor allem geprägt durch ihre Diversität.
Alle Religionen existieren in der Schweiz nebeneinander
Quelle von Reichtum
Protestantismus als Quelle von Reichtum
Die Reformation als Motor der Wirtschaftsentwicklung?
Die Reformation als Motor der Wirtschaftsentwicklung?
"Der Besucher ist von den schönen und komfortablen Gebäuden am Hauptplatz angetan, während sich in den Gässchen in unmittelbarer Nähe heruntergekommene Häuschen befinden, wo Armut, wenn nicht Elend regiert", schreibt 1862 der Genfer Notar und Alpinist Jean-Louis Binet-Hentsch in einem der ersten Führer über das Puschlav in Graubünden. Um dann anzufügen: "An keinem anderen Ort ist der Unterscheid zwischen protestantischer und katholischer Bevölkerung in gemischt-konfessionellen Gegenden deutlicher zu sehen als hier."
Wirtschaftlicher Unterschied
Wirtschaftlicher Unterschied
Auch die Flucht von Protestanten von einer Region des Kontinents zu einer anderen, etwa der französischen Hugenotten in die Schweiz, in die Niederlande und nach Preussen, oder der Reformierten von Locarno nach Zürich oder der Mennoniten nach Nordamerika, brachte immer wirtschaftliche Impulse mit sich.
In der Schweiz sticht die unterschiedliche ökonomische Entwicklung zwischen dem katholischen und protestantischen Teil des Kantons Appenzell in die Augen. Der Kanton wurde 1597 in einen katholischen (Appenzell-Innerrhoden) und protestantischen Teil (Appenzell-Ausserrhoden) geteilt. Während in Innerrhoden die Bevölkerung zwischen 1530 und 1730 nur um 30 Prozent zunahm, wuchs jene in Ausserhoden in dieser Zeit um das sechsfache.
Dank seiner industriellen Entwicklung wurde dieser Teil Appenzells zu einer der dichtest besiedelten Regionen Europas. Das zeigte der Nationalrat und Historiker Jo Lang vor kurzem in einem Artikel auf, der im Tages-Anzeiger erschien.
Die Thesen von Max Weber
Die Thesen von Max Weber
Weber erkannte in einigen Grundideen des Protestantismus die ethischen Grundlagen, welche die Entwicklung einer kapitalistischen Ökonomie begünstigten. Auf der einen Seite gab es den von Martin Luther geprägten Begriff des "Berufs", den auch andere protestantische Richtungen übernahmen. Demnach handelt es sich bei der Arbeit um etwas Gottgegebenes, was sich auch in der Ähnlichkeit der Wörter "Beruf" und "Berufung" spiegelt.
Dazu kam die "asketische" Sichtweise von Reichtum. Gemäss Johannes Calvin war Reichtum nicht akzeptabel, um für Luxus und weltliche Freuden eingesetzt zu werden, sondern nur, um in ein Unternehmen reinvestiert zu werden.
Die Absicht von Weber war eigentlich nicht, eine eindeutige Beziehung von Ursache und Wirkung zwischen Reformation und Kapitalismus nachzuweisen, wie Verallgemeinerungen seiner Thesen Glauben machen wollten, sondern eine Analogie zwischen religiösem Denken und "kapitalistischen Geist" herauszuarbeiten. Er selbst räumte ein, dass die Entwicklung eines Wirtschaftssystems immer auf einer komplexen Interaktion verschiedener Faktoren beruhte.
Der Kapitalismus vor der Reformation
Der Kapitalismus vor der Reformation
Wenn man sich heute auf der europäischen Landkarte umschaut, lässt sich schnell feststellen, dass sich die dynamischsten Wirtschaftsregionen in traditionell katholischen Gebieten befinden: Bayern, Teile von Baden-Württemberg, die Lombardei, Irland oder in der Schweiz die Kantone Zug und Schwyz.
Gemäss einigen Theoretikern liegt der Wettbewerbsvorteil von Regionen protestantischen Glaubens nicht so sehr im ethischen Fundus der Reformierten, als vielmehr generell im höheren Ausbildungsniveau. Die Idee des Priestertums aller Gläubigen führte in Verbindung mit der Notwendigkeit, die Bibel zu kennen und zu lesen, zu einer raschen Alphabetisierung der reformierten Regionen. Dies galt auch für die Frauen. Der Bildungsstand verbesserte sich insgesamt.
Unter den entschiedensten Kritikern von Max Weber findet sich der Schweizer Historiker Herbert Lüthy, Autor eines finanzgeschichtlichen Standardwerks über die protestantischen Banken in Frankreich zwischen 1685 und 1794. Trotz einer gewissen Anerkennung der Thesen Webers blieb Lüthy skeptisch gegenüber den Verallgemeinerungen des Soziologen. Er kritisierte beispielsweise eine unzureichende Quellenlage. Seiner Meinung nach waren die Voraussetzungen für den Wirtschaftskapitalismus schon zwischen dem Spätmittelalter und der Renaissance geschaffen worden.
Die Gegenreformation als Bremse
Die Gegenreformation als Bremse
Zurück zur Schweiz: Tatsächlich betraf die Industrialisierung anfänglich vor allem reformierte Gegenden. Doch ab Mitte des 19. Jahrhunderts verzeichneten auch traditionell katholische Kantone wie Zug oder Solothurn eine rasche Industrialisierung. Impuls- und Kapitalgeber waren in der Regel protestantische Unternehmer, doch entstand eine neue Führungsschicht von Katholiken liberaler Prägung, die für die Umsetzung der Initiativen sorgte.
"Die klerikale Industriefeindlichkeit hätte damals die protestantische Industrialisierung verhindern können, hätte diese nicht auf eine liberal-katholische Rückendeckung zählen können", schreibt Jo Jang über die Industrialisierung im Kanton Zug.
Die kulturellen und politischen Umwälzungen in Folge von Aufklärung und französischer Revolution brachten jedenfalls einen weit grösseren Schub für die Modernisierung der Wirtschaftswelt als die Reformation.
Eldorado der Evangelikalen
Die Vereinigten Staaten, Eldorado der Evangelikalen
Die Schweizer Brüder
Die Schweizer Brüder
Die Bezeichnung Schlaate wird im lokalen Dialekt allerdings immer noch benutzt, wenn vom Dorf Schleitheim die Rede ist, das im Kanton Schaffhausen liegt. Die alten Fachwerk-Häuser verleiten zum Gedanken, dass sich in einem von ihnen die Schweizer Brüder am 24. Februar 1527 um Michael Sattler vereinigt hatten, um die Artikel des Bekenntnisses von Schleitheim zu verabschieden.
Aber die ältesten dieser gut erhaltenen und von gepflegten Gärten umgebenen Behausungen waren erst zwei oder drei Jahrhunderte später gebaut worden. Das einzige, was von dieser denkwürdigen Vereinigung des 16. Jahrhunderts bleibt, ist ein altes gedrucktes Exemplar des Bekenntnisses, das aus der Zeit um 1550 stammt und heute im Museum des Dorfes ausgestellt ist.
Die Schweizer Brüder waren Teil der Täufer-Bewegung, die zwei Jahre zuvor gegründet worden war, als junge radikale Anhänger der Reformation mit Huldrych Zwingli brachen, weil sie ihm Zugeständnisse gegenüber den Behörden vorwarfen und verlangten, den Messen und den Kindstaufen ein Ende zu setzen.
Der Bruch war radikal. Die von Zwingli unterstützte Regierung ergriff Massnahmen, um diese "Täufer" zum Schweigen zu bringen und ihren Praktiken ein Ende zu setzen. Sie schreckte nicht davor zurück, einen der Führer hinzurichten, der sich weigerte, seine Ansichten zu verleugnen.
Die Repression konnte die Bewegung nicht zum Ersticken bringen, im Gegenteil: Wahrscheinlich schürte sie den religiösen Eifer der Anhänger sogar. Laut dem historischen Lexikon der Schweiz halfen die sieben Artikel des Schleitheimer Bekenntnisses, die Schweizer Täufer von den Anhängern anderer radikaler Gruppierungen und den offiziellen Evangelisten zu distanzieren und die "erste freie Kirche" zu gründen. Der Text beinhaltet die Ablehnung der Kindstaufe, das Schwurverbot und die Weigerung, Waffen zu tragen.
Es folgten Jahrhunderte der Verfolgung, des Lebens im Exil, in Europa und gewissen Regionen der Schweiz. Obwohl sich die Bewegung spaltete, wurde ihr Einfluss auf dem ganzen Kontinent wahrgenommen. Sie erreichte die Niederlande, das heutige Polen und mit den Hutterern auch Mähren (heute ein Gebiet Tschechiens). Die Täufer dienten auch den Quäkern im England des 17. Jahrhunderts als Beispiel.
Amerikanischer und religiöser Individualismus
Amerikanischer und religiöser Individualismus
Anders als in Europa konnten sich die Bürger Pennsylvanias einbürgern lassen, ohne Eid schwören zu müssen. Sie mussten auch keine Waffen ergreifen, weil der Bundesstaat keine Truppen rekrutierte.
Laut einem anderen Experten ist die wichtigste Hinterlassenschaft der Täufer in Nordamerika die Taufe der Erwachsenen und deren Folgen – in die Kirche zu gehen, ist eine unabhängige und freiwillige Handlung. "Es ist eine Antwort auf den amerikanischen Individualismus und unterstreicht, dass das Individuum Rechte hat. Dieses bestimmt über seine religiöse Zugehörigkeit, sein religiöses und staatsbürgerliches Engagement. Das ist ein wichtiger Gedanke", sagt Donald Kraybill vom Elizabethtown-College in Pennsylvania.
Übertreiben wollen die beiden Historiker allerdings den Einfluss der Täufer in den USA nicht. Sie sind Teil dieses Cocktails von Einwanderer-Gemeinschaften, die dazu beitrugen, diese Nation zu definieren.
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts sprachen rund 80'000 Personen in Pennsylvania Deutsch, was rund einem Drittel der Gesamtbevölkerung entsprach. Die meisten von ihnen waren Lutheraner oder Mitglieder der reformierten Kirche. Weniger als 5% waren Mennoniten oder Amische.
Einige anerkannte Rechte aus der Zeit, als die Quäker die Geschicke der Provinz leiteten, wurden während des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs (1776 bis 1783) abgeschafft, aber 1790 wieder in Kraft gesetzt. Während dieser Periode verloren alle Personen, die sich weigerten, den Treueeid zu schwören, ihre politischen Rechte.
Die alte Ordnung
Die alte Ordnung
"Die einen verlangten, dass den persönlichen religiösen Erfahrungen mehr Gewicht beigemessen werde, und sie forderten eine Spiritualität, die von den Traditionen und populären Brauchtümern weniger unterdrück wurden", sagt Steven Nolt. "Andere hielten an der 'Alten Ordnung' fest, einem traditionsbewussten Leben, das geprägt ist von Konsumskepsis und der hartnäckigen Ablehnung, die Kirche bürokratischen Formen anzupassen."
Die amische Alte Ordnung habe, sagt der Historiker, namentlich ein – wie er es bezeichnet – programmatisches Verständnis der Kirche abgelehnt, das laut ihnen durch die Sonntagsschule, die Missionsgesellschaften und die Hochschulbildung verkörpert wird. Die unterschiedlichen Lebensweisen akzentuierten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusätzlich mit der Verbreitung der Elektrizität, des Telefons und des Automobils.
Die Amischen und Mennoniten sowie andere christliche Bewegungen hätten sich häufig gegen den Staat gestellt, um ihre tiefe pazifistische Überzeugung zu verteidigen. Während des Ersten Weltkriegs war es in den USA nicht möglich, einen alternativen Dienst zu leisten. So seien die Männer dieser Vereinigungen in Ausbildungslager geschickt worden, wo sie militärische Uniformen tragen mussten – auch wenn sie nicht Kampftruppen angehörten, sagt Donald Kraybill. Wer sich weigerte, wurde bestraft.
1935 schlossen sich die Kirchen zusammen und schlugen für Wehrdienst-Verweigerer einen alternativen Dienst vor. Sie konnten auch die Bundesregierung überzeugen, einen Schritt in diese Richtung zu machen. "Der Widerstand der Täufer gegen die Wehrpflicht während der beiden Weltkriege hat der pazifistischen Identität in der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts Auftrieb verliehen", sagt Kraybill.
Das Pferd und der Einspänner
Das Pferd und der Einspänner
Die Bevölkerung der "Alten Ordnung" hat sich in den letzten 25 Jahren fast verdreifacht und zählt heute mehr als 300'000 Personen allein in den USA. Amische Gemeinschaften sind weit entfernt von ihren Herkunftsorten in verschiedenen Bundesstaaten zerstreut, Pennsylvania, Ohio und Indiana.
Eine Durchschnittsfamilie habe sechs Kinder oder mehr. 85% von ihnen blieben in der Gemeinschaft, wenn sie das Erwachsenenalter erreicht hätten, sagt Kraybill. "Diese beiden Komponenten beschleunigen das demografische Wachstum, obwohl sie weder das Evangelium praktizieren noch Bekehrungseifer haben."
Der Experte schätzt, dass der Erfolg dieser Gemeinschaften auf deren Fähigkeit beruhe, mit der Moderne Kompromisse schliessen zu können, wenn diese ihren Bedürfnissen entsprechen, zum Beispiel bei der Nutzung bestimmter Technologien der Informatik, Landwirtschaft oder des Gewerbes. Diese erlaubten es den traditionellen Gruppen, zu prosperieren, ohne dabei ihre typische Identität der "Alten Ordnung" zu verlieren.
Kraybill schätzt die Zahl amischer Manufakturen auf rund 12'000. Deren Produkte sind bekannt für ihre Qualität, ihren Wert und haben "den nostalgischen Charme von Amerika der ersten Zeit". Aber das Band, das die Amischen und die Mennoniten mit ihrer Vergangenheit verbindet, ist nicht Nostalgie, sondern es sind die Grundsätze, welche die Täufer vor einem halben Jahrtausend im Norden der Schweiz schriftlich niedergelegt hatten.
Autoren
Andrea Tognina (Kapitel 1 und 3; Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob) / Dale Bechtel (Kapitel 4; Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler) / Olivier Pauchard / Duc-Quang Nguyen (Grafik)
Fotos
Keystone (wo nicht anders erwähnt)
Produktion
Luca Schüpbach, © 2017 swissinfo.ch